Architektur USA

Seattles vergessener Untergrund

Ich stehe auf der Straße in Downtown Seattle, neben mir fährt der hupende Verkehr, das Stadtleben ist in vollem Gange als ich eine schmale Kellertreppe hinuntergleite.

Die Straßengeräusche werden weniger und weniger als ich durch eine rostige Tür schreite und mir kühle Kellerluft entgegen schlägt.
Die Tür fällt zu und es wird schlagartig ruhig in dem spärlich ausgeleuchteten Untergrund.
Es geht durch den nächsten Türbogen und plötzlich finde ich mich auf einem Gehsteig vor einem Hauseingang wieder, das Straßenschild immer noch staubig an der Häuserecke.

Doch über mir kein freier Himmel, sondern eine Betondecke unterbrochen von Glasbausteinen, durch die man die beschäftigten Sohlen der Einwohner Seattles vorüberziehen sieht.

Wieso befindet sich hier unten ein vergessenes Seattle, das wie eine Gruft auf Grabräuber wartet?
Seine Entstehungsgeschichte ist eine bizarre Rarität die ihresgleichen sucht:

  • Die Stadt wurde auf einem Strandabschnitt gegründet, die Vermessung fand bei Ebbe statt.
  • Toilettensysteme die bei Flut Wasser in die Häuser drückten, samt Rohrleitungsinhalt.
  • Schlaglöcher so groß, dass Autos nicht darüber hinwegpolterten, sondern darin versunken sind.

Stuttgart 21, Berliner Flughafen, Elbphilharmonie? Meisterwerke der Planung verglichen mit Seattle.

Unsere faszinierende Geschichte über Seattles vergessenen Untergrund beginnt im Jahre 1889 – am 6. Juni, einem warmen Sommertag um 14:39.
Jonathan Edward Back wirft unabsichtlich einen Topf voll Klebstoff um, welcher kochend auf seinem Herd steht.
Er versucht den fetthaltigen Holzkleber mit Wasser zu löschen, doch vergebens – seine Unachtsamkeit lässt 31 Blocks der Stadt niederbrennen.

University of Washington Libraries Digital Collections | Public Domain

Jonathans Fehler lässt die Stadtplaner zwei strategische Entschlüsse fassen:

  • Alle neu gebauten Häuser müssen aus Stein oder Ziegel bestehen.
  • Da keiner mehr Lust auf Toilettenflut im Wohnzimmer hat, wird die neue Kanalisation auf der damaligen Strassenebene gebaut, die neue Strasse wird eine Ebene darüber verlaufen.

Die 31 Blocks die niederbrannten, umfassten das gesamte Handelsviertel. Der Umstand, dass die Bauarbeiten erst etwa 8 Jahre später starten sollten, veranlasste die Händler, da sie nicht auf die Stadt warten wollten, ihre Häuser sofort wieder aufzubauen – auf der alten Strassenebene.
So entstand Block um Block ein neues Handelsviertel, dessen umliegende Gehsteige dann Jahre später durch das neu entstandene Kanalsystem abgetrennt wurden.
Oben auf dem Kanalsystem wurden nun von der Stadt die Strassen wie geplant angelegt.

Seattle Underground Diagram

(A) Neue Strassen Ebene, (B) Alte Strassen Ebene, (C) Kanalisation, (D) Alter Gehsteig

Dieser Höhenunterschied musste nun von jedem bewältigt werden in dem man vom tiefer gelegenen Gehsteig über eine Leiter auf die Ebene der Strasse kletterte.
Durchschnittlich betrug der Unterschied 4, an manchen Stellen stolze 10 Meter!

Eine Einigung über die Kostenübernahme der Gehsteige, die auf der Ebene der Strassen gebaut werden sollten, wurde nicht erzielt und so stieg man munter auf und ab.
Erst nachdem es die Leute leid waren von herabfallenden Kisten getroffen zu werden und insgesamt 17 Menschen nachts im Suff zu Tode stürzten, einigte man sich auf die Teilung der Gehsteigkosten zu gleichen Teilen zwischen den Händlern und der Stadt.

Die tiefer liegenden Gehsteige und Eingänge in Seattles so neu entstandenem Untergrund wurden weiterhin genutzt. Die auf der Strassenebene befindlichen Gehsteige waren regelmäßig von klaren Glasblöcken durchzogen um Licht nach unten zu lassen.
Durch den hohen Mangan Anteil im Glas, verfärbte sich dieses im Laufe der Zeit violett.

1907, zwei Jahre vor der stattfindenden Weltausstellung, veranlasste die Stadt die Schließung von Seattles Untergrund, größtenteils aus Angst vor der Verbreitung der Beulenpest.
Viele Bereiche wurden aber illegal weitergenutzt und dienten nun als Spielhallen, Mondscheinkneipen, Opiumhöhlen, Bordelle und als Schlafbereiche für Obdachlose.

In den 1970er Jahren begann Bill Speidel, ein geschäftstüchtiger Historiker, mit der Restaurierung des in Vergessenheit geratenen Untergrundes.

Wer selbst auf den Geschmack gekommen ist Seattles Untergrund zu erkunden, kann dies auf von mehreren Unternehmen geführten Touren tun – Informationen hierfür im Anhang.


Bill Speidel’s Underground Tour

614 First Ave
Seattle, WA 98104
undergroundtour.com

Beneath The Streets

102 Cherry Street
Seattle, WA 98104
beneath-the-streets.com

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2 Comments

  • Reply
    Ronny von Cache'n'Travel
    27. Juni 2016 at 21:21

    Ein wirklich interessanter Artikel. Da gibt es bestimmt einige spannende Lost Places zu entdecken.

    • Reply
      Miriam
      14. September 2016 at 17:29

      Lieber Ronny,
      da bin ich mir sicher. Allerdings glaube ich, ist der Empfang da unten ziemlich mies ;).
      Viele (wenn auch etwas verspätete) Grüße
      Miriam

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